Mittwoch, 12. Januar 2022
Die Flöte

Ich ging einmal über eine Wiese und entdeckte im hohen Gras eine Flöte. Ich hob sie auf, betrachtete sie, und wie ich sie so in den Händen drehte und wendete, kam ein leichter Wind auf, der leise, ganz sachte die Flöte zum Klingen brachte. Und das war die Geschichte, die der Wind durch die Flöte erzählte:

diese Flöte ist ein Ding, das nicht denkt. Es wurde geschaffen durch die Hände eines Flötenmachers und lag lange zwischen anderen Flöten in einem Regal. Da kam ein kleiner Junge, entdeckte sie, jammerte und quengelte, bis die Mutter sie ihm kaufte ? und ab diesem Moment war der Junge ein Flötenspieler.

Wohin auch immer er ging, immer begleitete ihn die Flöte in seiner Tasche und oft zog er sie heraus und begann auf ihr zu spielen. Anfangs waren es nur ein paar ungeschickte Laute, doch mit der Zeit wurden klare Töne und dann kleine Melodien daraus, und schließlich gelang es dem jungen Flötenspieler sogar, die Klänge hervorzubringen, die er nur innerlich hörte. Denn tief in seinem Herzen hörte er immer genauer, je stiller er sich dem Hören anvertraute und das Spielen der Flöte seinen Fingern überliess. Er hörte mit dem Herzen und spielte die Flöte mit seinen Fingern und es wurden Melodien daraus, die das Leben ihm eingab.
Die Stimmen, die vielen Stimmen seiner Mitschüler, seiner Eltern, Geschwister und Lehrer, die Gefühle, die er in sich spürte und fühlte, Freud und Leid, alles verwandelte sich unter den Fingern auf seiner Flöte in eine wunderbare, vollendete, heilende Musik.

Mit der Zeit wurde er ein bekannter und beliebter Flötenspieler, weil er anderen dabei half, sich selbst in seiner Musik wiederzuentdecken, sich selbst zu hören in den Tönen und Melodien, die seine Flöte hervorbrachte.
Wenn es auf dem Schulhof zu einem Streit kam, wenn beim Abendessen mit der Familie ein Problem auftauchte, wenn eine Schulaufgabe zu schwer war oder wenn seine Freunde miteinander spielten und lachten ? plötzlich juckte es den Flötenspieler in den Fingern, er zog seine Flöte heraus und begann zu spielen. Und jeder, der ihn hörte, erkannte sofort: das bin ich, das sind wir. Und wir sind schön, wir sind eine schöne, wunderschön anzuhörende Melodie. Gab es ein Problem, so spielte der Junge das Problem als eine schwierige, komplizierte und etwas dissonante Musik, doch er spielte sie so lange und immer weiter und weiter, bis sich die Dissonaz in eine Harmonie von Klängen gewandelt hatte, und jeder verstand: das ist die Lösung des Problems.

Diese Flöte nun hielt ich in meinen Händen und ich fühlte, wie viel Leben durch sie hindurchgeströmt war, wie die Schwingungen so vieler menschlicher Gefühle und Gedanken durch sie hörbar gemacht worden waren. Doch warum lag sie nun hier im hohen Gras?

Der Wind hatte sich gelegt und die Flöte hat es mir nicht erzählt, aber vielleicht hatte der Junge sie nicht mehr gebraucht. Vielleicht war er selbst zur Flöte geworden, war selbst die Melodie geworden, die anderen ihre eigene innere Musik nahe brachte und sie von Dissonanzen in Harmonien wandeln konnte. Vielleicht.

Behutsam steckte ich die Flöte in meine Tasche und legte sie zu Hause an einen schönen warmen Platz, wo sie noch heute liegt und jeden, der es hören kann, an seine eigene innere wunderschöne und vollendete Melodie erinnert.

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